In Gips gelegt

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In Gips gelegt


Otto ist mit dem Auto gegen einen Baum gefahren. Otto ist mein Freund und Kegelbruder. Der Baum, gegen den Otto geschleudert wurde, stand in einer Kurve und war eine Roßkastanie, die laut Polizeibericht einen Durchmesser von ein-meter-achtzig hatte. Der Unfall ereignete sich bei Regenwetter. Die Straße war glatt, und den Unfall hat ein simpler Ölfleck verursacht, den ein Mähdrescher hinterließ. Ein Mähdrescher ist ein landwirtschaftliches Nutzfahrzeug.

 
Otto hatte es eilig. Er ist Vertreter für eine Firma, die Spielautomaten aufstellt. Wenn es in unserer Stadt jemanden gibt, dessen Zeit kostbarer ist als die Zeit anderer Menschen, dann ist dieser Jemand Otto Sowieso. Die überzogene Geschwindigkeit seines Wagens warf ihn gegen einen Baum, dem das bißchen Blech nichts ausmachte; Roßkastanien sind widerstandsfähiger als Stoßstangen.
 
Das Rasen ist ihm zur Gewohnheit geworden, und beim Bier erzählt er gern, daß die Polizei ihn noch nie erwischt hat. Jetzt liegt Otto mit sechs gebrochenen Rippen und einer Gehirnerschütterung im Krankenhaus, III. Stock, Zimmer 314. Besuchszeit ist von 15 bis 18 Uhr. Die Stationsschwester heißt Modesta und ist fünfzig Jahre alt.  Schwester Modesta ist eine energische Person, ihre Patienten haben nichts zu lachen. Die gebrochenen Rippen und die Gehirnerschütterung sind nicht alles. Der linke Fuß, ein Trümmerbruch, mußte eingegipst werden. Die Zunge mußte genäht werden, elf Zahnstümpfe mußten heraus, und die rechte Augenbraue hat einen häßlichen Riß. Otto ist die längste Zeit seines Lebens ein schöner Mann gewesen.
 
Vorläufig kann Otto nicht einmal sprechen, er schreibt seine Gedanken mit dem Griffel auf eine Schiefertafel. „Wann werde ich entlassen?" kritzelt Otto auf die Tafel und zeigt sie dem Oberarzt. „Das hängt von Ihrem Zustand ab", antwortet der Arzt, „aber ich empfehle Ihnen, sich Zeit zu lassen."
 
Otto liegt also da und läßt sich Zeit. Er hat plötzlich mehr Zeit, als er sich je gewünscht hat. Er kann sich nicht erinnern, jemals in seinem Leben überhaupt Zeit gehabt zu haben. Im Bett darf er sich nicht auf die Seite legen. Er wird künstlich ernährt, weil er nicht kauen und nicht schlucken kann. Er darf nichts, er kann nichts, und er muß lernen, nicht mit dem Bauch zu atmen, was auch immer das heißen mag. Nicht mit dem Bauch zu atmen, das ist alles, was er zu tun hat. In seinen Ohren dröhnt immer noch das Geräusch splitternder Scheiben und krachenden Blechs.
 
Endlich hat er Muße, ein Buch zu lesen. Schwester Modesta hat ihm „Das gute Samenkorn" und den „Missionskalender für das Jahr 1991" auf den Tisch gelegt. Wenn er lange genug gelesen hat, veranstaltet er Schönschreibübungen auf der Schiefertafel.
 
„Wie geht es Ihrem Herrn Vater?" schreibt Otto.
„Er ist tot", antwortet Schwester Modesta barsch.
Aus der Frage geht hervor, daß Otto auf dem besten Wege ist, sich außer um Spielautomaten auch um Mitmenschen zu kümmern. Früher wäre es ihm jedenfalls nicht in den Sinn gekommen, sich nach dem Befinden irgendeines Vaters zu erkundigen. Gute Samenkörner, Missionskalender und Väter von Krankenschwestern existierten für ihn nicht. Was existierte, hieß Geschäft und Gewinn.
 
Es ist erstaunlich, daß die Welt sich jetzt ohne Otto dreht. Fest steht, daß selbst ein Mann wie Otto zu ersetzen ist. Das Leben weiß sich sofort zu helfen, wenn jemand in Gips gelegt wird. Es soll sogar Bekannte geben, die nicht einmal bemerkt haben, daß Otto schon seit vier Wochen dem Getriebe der Welt mangelt.
 
Heute habe ich Otto besucht. Er hielt mir seine Tafel entgegen und darauf stand: „Mit weniger Eile schneller ans Ziel". Er will diesen Satz tausendmal schreiben. Er glaubt, daß sich Erkenntnisse auf diese Weise gründlicher einprägen.
 
Ich nickte: „So ist es, Otto."



Bernhard Schulz
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